Hier ist ein kleiner Artikel über einen unglaublichen, aber vergessenen Teil deutscher Geschichte, der leider nicht ins MinDMag gepasst hat.


Na Cui Zai Nan Jing
Nazis in Nanjing

Das Internet bietet schon ein paar nette Möglichkeiten. Man kann sich vom eigenen Schreibtisch aus mit Menschen aus aller Welt unterhalten. Wenn ich die Zeit dazu habe mach ich das auch, unter anderem auch mit Leuten aus China, was allerdings gar nicht so einfach ist, weil es eine ziemlich große Zeitverschiebung zwischen China und Europa gibt. Als es eines Tages doch mal wieder geklappt hatte fragte mich mein chinesischer Freund, wen ich denn für die größten Deutschen halte. Das ist keine so ungewöhnliche Frage, wie man vielleicht auf den ersten Blick denken könnte, weil sich die Chinesen (zumindest die, die ich kenne) sehr für uns interessieren und scheinbar viel mehr über Europa wissen, als wir über China. Naja, dann fielen halt die Namen der üblichen Verdächtigen wie Luther, Beethoven, Bismarck, Einstein und der für einen Festland-Chinesen so unvermeidliche Karl Marx. Und dann fragte er mich noch, was ich von John Labe halten würde (er wußte nicht genau wie man den mit lateinischen Buchstaben schreibt). John Labe? Nie gehört. "Du kennst nicht John Labe?"
Der Name sagte mir überhaupt nichts, also wollte ich wissen, wer das war. Er sagte mir der hätte den Chinesen im Kampf gegen die Japaner während des Japanisch-Chinesischen Krieges (unmittelbar vor dem 2. Weltkrieg) geholfen, und zwar in einer Stadt namens Nanjing, von der ich auch noch nichts gehört hatte. Aber für unwissende Leute gibt's ja Suchmaschinen. Nur schade, wenn man da überhaupt nichts über John Labe findet. Dann fiel mir ein, daß mein chinesischer Freund sich nicht sicher war, wie man besagten Labe schreibt, und daß Chinesen gerne mal das "L" mit dem "R" verwechseln. Ich dachte immer, das wäre nur ein Gerücht, aber ich hab's trotzdem mal ausprobiert und nach "John Rabe" gesucht. Ich fand ein paar Seiten über einen deutschen Nazi, der zusammen mit ein paar anderen Ausländern Ende der 1930er Jahre Tausende von Chinesen in Nanking (alte deutsche und englische Schreibweise von Nanjing) vor den Japanern gerettet haben soll.
Auf den ersten Blick klang das wie eine äußerst ungesunde Mischung aus Verschwörungstheorie und brauner Propaganda. Aber dann stieß ich auf ein Buch, genauer gesagt auf ein Tagebuch von John Rabe, das er während der Ereignisse von Nanking geschrieben hatte. "John Rabe Der gute Deutsche von Nanking", herausgegeben von Erwin Wickert. Wickert war langjähriger Diplomat unter anderem in Japan und China, galt als Kenner der Region und war alles andere als ein unseriöser oder gar brauner Verschwörungstheoretiker. Ich hab ihn sogar schon mal bei Beckmann gesehen, zusammen mit seinem Sohn Ulrich Wickert, den man aus den ARD-Tagesthemen kennt. So langsam fand ich die Sache interessant, also her mit dem Buch! Das enthielt erstmal eine sehr positive Überraschung: Wickert hat nicht einfach nur das Tagebuch abgedruckt, sondern viele externe Dokumente von anderen Zeitzeugen eingefügt und die Vorgeschichte der Ereignisse von Nanking so erklärt, das die historische Situation auch für "Zuspätgeborene" verständlich wird.



Erwin Wickert (Hrsg.): John Rabe
Untertitel: Der gute Deutsche von Nanking
443 Seiten (gebundene Ausgabe)
Deutsche Verlags-Anstalt DVA 1997
ISBN: 3421050988
25,00 Euro


John Rabe wird am 23. November 1882 in Hamburg geboren. Zunächst wird er Handlungsgehilfe in einer Hamburger Exportagentur. Nachdem er ein paar Jahre im damals portugiesischen Mosambik gearbeitet hat, kommt er 1908 nach Peking, wo er erst für eine Hamburger Firma und ab 1911 für Siemens tätig ist. Bis zu den Ereignissen von Nanking hat er Deutschland nur für kurze Zeit besucht, zuletzt 1930. Seit 1931 leitet Rabe die Siemens-Vertretung in Nanking. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland und die damit verbundenen Verbrechen kennt er wenn überhaupt nur aus Zeitungen. Daher ist es nicht so verwunderlich, daß er 1934 aus Heimatverbundenheit und um sich den Aufbau einer deutschen Schule in Nanking zu erleichtern in die NSDAP eintritt und für kurze Zeit sogar deren stellvertretender Vorsitzender in Nanking wird. Nanking liegt etwa zweihundert Kilometer östlich von Schanghai am Jangtse-Fluß und ist damals die Hauptstadt eines vom Nationalistenführer Tschiang Kai-schek regierten und von Bürgerkriegen und ausländischen Eroberern geschwächten Chinas.

Im August 1937 ist John Rabe mit seiner Frau in einem Seebad östlich von Peking, als er vom Angriff der japanischen Armee auf China erfährt. Als die Japaner Schanghai angreifen und beginnen Nanking zu bombardieren, fährt er zurück nach Nanking. Die japanische Armee ist den Chinesen so überlegen, das sie die chinesische Hauptstadt früher oder später erobern würde, das weiß nicht nur Rabe, das weiß auch die Regierung um Tschiang Kai-schek und das wissen die Einwohner Nankings, die es ihrer Regierung gleich tun und zu hunderttausenden die Stadt verlassen. Viele der Bewohner bleiben jedoch zurück, weil sie nicht wissen wohin, oder weil sie einfach nicht das Geld für die Reise und einen Neuanfang in einem sicheren Teil Chinas haben. Rabe weiß daß seine Angestellten dazu gehören, weil in deren nordchinesischer Heimat auch Krieg ist. Und er weiß daß er sie nach dreißig Jahren in China nicht im Stich lassen kann, deshalb entschließt er sich, in Nanking zu bleiben. Er beginnt sich auf den Krieg vorzubereiten und seine Erlebnisse in einem Tagebuch zu dokumentieren.

Am 19. 11. schreibt er in sein Tagebuch: "Es hat sich eine Internationale Kommission gebildet, hauptsächlich aus amerikanischen ärzten vom Kolou-Hospital und Professoren der Nanking University, alles Missionare. Sie wollen versuchen ein Flüchtlingslager zu schaffen, das heißt eine neutrale Zone innerhalb oder außerhalb der Stadt, wohin sich Nichtkombattanten während einer eventuellen Beschießung der Stadt flüchten können." (S.53)
Weil er einer der ersten Ausländer ist, der sich definitiv zum Bleiben entschlossen hat, wird er gebeten dem Komitee beizutreten. Drei Tage später, bei einer Art Gründungssitzung, wird er dann sogar zum Vorsitzenden gewählt. Auf das Komitee wartet eine gigantische Aufgabe. Obwohl ein großer Teil der Bevölkerung geflohen ist, sind immer noch einige hunderttausend Zivilisten in der Stadt, für die das Komitee zumindest innerhalb der Zone administrative Aufgaben (Verwaltung, Versorgung mit Lebensmitteln, Heizmaterial, medizinische Versorgung usw.) übernehmen will. Dazu braucht man das Einverständnis der chinesischen Behörden, eine Menge Geld und vor allem den Abzug sämtlicher chinesischer Militärs aus der neutralen Zone, um eine Anerkennung auch durch die immer näher kommenden Japaner zu erreichen und Kampfhandlungen innerhalb der sich langsam füllenden Zone zu verhindern.
Die ersten beiden Punkte sind relativ schnell erreicht, trotz Korruption kommt ein Teil des von Tschiang Kai-schek zugesagten Geldes beim Komitee an. Es gelingt ihnen auch trotz der täglichen Luftangriffe der Japaner große Vorräte an Reis, Kohle und anderen lebenswichtigen Gütern anzulegen. Aber die chinesische Armee will Nanking auch innerhalb der neutralen Zone bis zum letzten Blutstropfen verteidigen. Das ist angesichts der japanischen Übermacht zwar vollkommen sinnlos, aber den Ausländern gelingt es erst kurz vor dem japanischen Einmarsch, die Zone zu entmilitarisieren.

Am 7. Dezember flüchtet auch der bisherige Bürgermeister aus Nanking und mit dessen Einverständnis bekommt die chinesische Hauptstadt mit John Rabe einen deutschen "Bürgermeister", der einen amerikanischen Stellvertreter, einen britischen Sekretär, einen österreichischen und einen weißrussischen Mechaniker, weitere 19 ausländische Helfer und die Unterstützung von unzähligen namenlosen Einheimischen hat. Als die letzten in der Stadt befindlichen chinesischen Soldaten merken, daß sie den Japanern nicht mehr entkommen können, flüchten sie sich in die Zone. Am Eingang der Zone wacht Eduard Sperling, der für das Komitee eine Art Polizeichef gibt, mit einer Pistole in der Hand darüber, daß tausende chinesische Soldaten alle Waffen abgeben, so daß sie den Japanern gut sortiert übergeben und Gefechte innerhalb der Zone vermieden werden können. Daß die Pistole nicht mal geladen ist, wissen die Soldaten nicht.

Nach langen blutigen Gefechten fällt Nanking am 13. Dezember 1937 in die Hände der Japaner. Schon in den ersten Stunden der Besatzung finden sich überall in der Stadt unzählige Leichen von Soldaten, die den Kämpfen zum Opfer gefallen sind, aber auch von offensichtlich auf der Flucht erschossenen Zivilisten. Plünderungen beginnen überall in der Stadt; und Massenerschießungen. "Aus dem Justizgebäude, in welchem wir etwa tausend entwaffnete Soldaten untergebracht haben wurden an die 400 bis 500 Leute gefesselt davongetrieben. Wir nehmen an, daß sie erschossen wurden, da wir später verschiedene MG-Salven hörten. Wir sind starr vor Entsetzen über dieses Vorgehen." (S.110) Mindestens 400 Menschen, nicht der einzige Massenmord an diesem Tag, und es ist erst der erste Tag der Besatzung.
Für das Komitee geht es jetzt nicht mehr bloß um die Versorgung der Menschen in der neutralen Zone. Jetzt geht es darum, möglichst viele Morde und das Ausbrechen von Seuchen zu verhindern, denn das Begraben der überall herum liegenden Leichen haben die Japaner verboten. Die Ausländer entschließen sich die Verbrechen zu dokumentieren, wenn sie sie schon nicht verhindern können, weil ihre Proteste ignoriert werden.
Und Rabe hat noch ein Problem: sein 500 Quadratmeter großes Grundstück ist mittlerweile mit Flüchtlingen überfüllt, später wird sich herausstellen, daß sich über 600 Menschen auf dem Grundstück und in seinem Haus befinden. Plündernden japanischen Soldaten, die sich über seine Gartenmauer wagen, hält er sein Hakenkreuz-Armband unter die Nase und brüllt sie auf deutsch zusammen. Das zieht. Wenigstens 500 Quadratmeter, auf denen es keine Erschießung gibt, und keine Vergewaltigungen, die mittlerweile alltäglich werden. Auf seinem Grundstück hat Rabe zum Schutz gegen japanische Luftangriffe eine 6x3 Meter große Hakenkreuzflagge aufgespannt, die unter den Flüchtlingen als einer der sichersten Plätze in ganz Nanking gilt. Es klingt schon absurd, wenn man weiß, daß das Hakenkreuz das für unzählige Menschen in Europa ein Symbol des Schreckens war und ist, daß eben dieses Hakenkreuz für die Chinesen in Nanking zum Symbol der Hoffnung und der Rettung wird. John Rabe benutzt sein Armband und seine deutschen Flaggen, wo immer es nützlich werden kann, weil sich immer mehr herausstellt daß die Nazis die Einzigen sind vor denen die Japaner Respekt haben.
Die Amerikaner haben es viel schwerer, die Japaner begegnen ihnen mit offener Feindseligkeit, auch wenn Pearl Harbor noch Zukunft ist. Proteste und Hilferufe bei den Offizieren der japanischen Armee bleiben wirkungslos, auch wenn es eine kleine Minderheit in der japanischen Armee und der japanischen Botschaft gibt, die sich für die Verbrechen schämt und diese, wie sich später herausstellen wird, zum Teil sogar heimlich dokumentiert. Rabe sendet Hilferufe nach Berlin zum Führer persönlich. Der müsse doch in der Lage sein, den Japanern Einhalt zu gebieten, aber passieren tut natürlich nichts. In Berlin hat man kein Interesse sich mit dem wichtigsten Verbündeten anzulegen.
Und überhaupt, wen interessieren schon ein paar hunderttausend Chinesen?

Der Alltag in Nanking besteht nun - so zynisch das klingen mag - aus Tausenden von Morden, mittlerweile auch gerne mit dem Bajonett, durch Verbrennen oder durch Enthauptung, aus unzähligen Vergewaltigungen, aus einer immer schwieriger werdenden Versorgungslage, aus Plünderungen und dem systematischen Abbrennen der Häuser außerhalb der Zone und aus einer Horde von 24 verrückten Ausländern, die doch tatsächlich glauben, die Situation verbessern zu können. Da ist beispielsweise eine amerikanische Missionarin und Professorin namens Minnie Vautrin, die in ihrem Ginling-College einigen tausend zumeist weiblichen Flüchtlingen eine Zuflucht bietet und mit dem Mut der Verzweiflung verhindert, daß das College zwangsweise zu einem Bordell umfunktioniert wird. Da sind der Däne Bernhard Sindberg und sein deutscher Kollege Karl Günther die außerhalb der Stadt in einer Zementfabrik ihr eigenes "kleines" Flüchtlingslager mit Tausenden Chinesen betreiben und immer wieder von der Versorgung durch das Komitee abgeschnitten werden. Und da sind die Mitarbeiter des Kolou-Hospitals die mit Akkordarbeit versuchen, das Leid der Überlebenden der unzähligen japanischen Übergriffe zu lindern. Rabe besucht das Hospital jeden Tag um sich auch hier einen Überblick über die Verbrechen zu verschaffen, denen das Komitee fast immer tatenlos zusehen muß.
Am 7. Januar schreibt er: "Mr. Riggs bringt die folgenden Berichte von seiner heutigen Inspektionsreise mit: Eine Frau irrt mit abwesendem Blicken in den Straßen umher. Man bringt sie ins Hospital und hört daß sie die einzige überlebende einer achtzehnköpfigen Familie ist. Ihre 17 Verwandten sind erschossen und bajonettiert worden." (S.168)
Auch für die Mitglieder des Komitees wird die Lage schwieriger, weil sie den Japanern ein Dorn im Auge sind die ihnen sogar die Schuld für das Massaker in die Schuhe schieben wollen, mit der Begründung sie hätten die Chinesen gegen die Besatzer aufgehetzt. Aber je größer die gegenseitige Abneigung zwischen Japanern und Ausländern wird, desto größer wird auch die Verehrung der Chinesen für das Komitee und seine Helfer und desto größer wird auch der Zusammenhalt zwischen Amerikanern und Europäern.

Anfang Januar kehren dann einige Angehörige westlicher Botschaften nach Nanking zurück und erleichtern die Kommunikation des Komitees mit der Außenwelt, die bis zu diesem Zeitpunkt stark eingeschränkt war, weil die Ausländer die Stadt nicht verlassen durften um Berichte über das Massaker zu verhindern.
Nicht daß die Lage nicht schon ernst wäre, aber die Besatzer fordern ab Mitte Januar ultimativ, das die Schutzzone bis zum 4. Februar zu räumen ist und die Flüchtlinge in ihre Häuser zurückkehren müssen. Die sind zwar zum großen Teil ausgeplündert und abgebrannt, aber das interessiert irgendwie keinen. Dazu kommt das viele der Flüchtlinge, die trotzdem versuchen zu ihren Häusern zurückzukehren, überfallen werden und sofort wieder in die Zone kommen. Zum Glück vergeht der 4. Februar ohne eine gewaltsame Auflösung der Zone, und auch der nächste Stichtag, der 8. Februar 1938, bleibt ohne Folgen. Trotzdem leert sich die Zone nach und nach, weil die Gewaltwelle, die durch die Stadt gezogen ist, langsam ab- und die Ordnung innerhalb der japanischen Armee zunimmt.
Aufgrund der einseitigen Ernährung der Bevölkerung, die fast nur Reis zur Verfügung hat (und auch davon nur zwei Tassen pro Kopf und Tag und das mitten im Winter), kommt es zu ersten Fällen von mangelernährungsbedingten Krankheiten wie Beriberi. Um diesem Problem entgegenzuwirken bestellt das Komitee Medikamente und tonnenweise Bohnen in Schanghai. Von den japanischen Behörden in Schanghai kommt auch die Genehmigung dafür, aber die Japaner in Nanking stellen sich zunächst quer und lassen die Einfuhr erst nach einigen Tagen zu. James McCallum, amerikanischer Arzt im Kolou-Hospital, beweist nach der Einfuhr der Bohnen britischen Humor und schreibt Rabe ein Lied "We want beans for our breakfast, beans for our lunch" (S.274)

Vor dem Einmarsch der Japaner hatte es Siemens Rabe noch freigestellt ob er in Nanking bleiben oder sich in Sicherheit bringen wolle, aber seit Mitte Januar hat er die telegraphische Anweisung Nanking schnellstmöglich zu verlassen weil es dort nichts mehr für die Firma zu holen gibt. Zunächst darf er wie alle anderen Ausländer auch gar nicht heraus, und als er schließlich darf, versuchen er und seine Kollegen mit Telegrammen zu erreichen, daß er seine Arbeit für das Komitee fortsetzen kann. Diese Versuche bleiben vergeblich, Mitte Februar 1938 hat sich die Lage in Nanking aber soweit beruhigt das er die Stadt mit gutem Gewissen verlassen kann. Übergriffe auf die Zivilbevölkerung wird es noch monatelang geben, aber das Schlimmste ist überstanden. Nachdem er als "Bürgermeister" durch den Amerikaner Wilson Mills ersetzt wurde und einem ergreifenden Abschied von der Bevölkerung Nankings verlässt Rabe die Stadt am 23. 2. 1938 und kommt nach längerer Schiffsreise in Berlin an.

Dort beginnt er mit Vorträgen über die Ereignisse der letzten Monate, die als Massaker von Nanking in die Geschichte eingehen sollten. Die Gestapo beendet diese Berichte, Schlimmeres bleibt John Rabe und seiner Familie zum Glück erspart. Den Krieg erlebt er in Berlin wo er nach der Befreiung als Nazi denunziert und erst entnazifiziert wird, als die Briten, in deren Sektor (Berlin-Siemensstadt) er lebt, von seiner Rolle in Nanking hören. Dabei wird ihm ein Brief helfen, den er von einer dankbaren Chinesin bekommen hat: Madame Tschiang, keine Geringere als die Frau des Kuomintang-Führers Tschiang Kai-schek. Das Buch enthält sozusagen als Zugabe einige Tagebucheinträge aus der Zeit der letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges; auch die sind beeindruckend. Nach dem Krieg lebt er bis zu seinem Tod am 5. Januar 1950 in Armut, bekommt aber einige Care-Pakete von einem seiner amerikanischen Helfer aus dem Kommitee, zum Teil finanziert durch eine Spendensammlung der Überlebenden des Massakers. Die Chinesen bieten ihm sogar eine Rückkehr nach China an, wenn er sich bereit erklärt, gegen mittlerweile angeklagte japanische Kriegsverbrecher auszusagen. Weil er nicht will daß japanische Soldaten aufgrund seiner Aussagen hingerichtet werden, bleibt er im zerstörten Berlin. In seinem Tagebuch macht John Rabe immer die in Nanking stationierten Soldaten und nie das japanische Volk für das Massaker verantwortlich.

Während des Massakers von Nanking wurden nach unabhängigen Angaben etwa 250.000 Menschen ermordet, RBB-Inforadio sprach in einem Bericht im Sommer 2006 sogar von 300.000. Die Zahl der Vergewaltigungen schwankt irgendwo zwischen 20.000 und 80.000, genau weiß das niemand.
In der Schutzzone haben mindestens 200.000 Menschen überlebt, weil eine kleine Gruppe von Ärzten, Missionaren und Geschäftsleuten trotz offensichtlicher politischer und religiöser Differenzen auf unglaubliche Weise über sich hinausgewachsen ist und den Begriff Mitmenschlichkeit geradezu zelebriert hat.
John Magee, Lewis Smythe, Bernhard Sindberg, Cola Podshivoloff, Rupert Hatz, Christian Kröger und all die anderen kennt heute fast niemand mehr. Das Massaker von Nanking wird noch immer von einigen ewig Gestrigen in Japan geleugnet, vom Rest der Welt ist es fast vergessen worden. Für das chinesische Volk ist die Erinnerung an Nanking immer noch ein Trauma und eine Demütigung.
In unsere eigene Geschichtsschreibung paßt ein heldenhafter "Nazi", der sein Leben für seine chinesischen Angestellten und schließlich für eine ganze Stadt riskiert, irgendwie nicht, auch wenn sein Wirken im krassen Widerspruch zu der menschenverachtenden Ideologie der Nationalsozialisten stand. Es ist zwar traurig, aber kein Wunder, daß ich mir von einem Chinesen erklären lassen muß, wer einer der größten Deutschen des 20. Jahrhunderts war. John Rabes Grab wurde 1997 eingeebnet, mittlerweile steht dort aber dank der chinesischen Regierung ein kleines Monument. Sein Tagebuch muß man auch in der größten Berliner Buchhandlung, die mehrere Regale von Büchern über die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat, erst bestellen. Die können halt auch nur das anbieten was die Leute interessiert.
Und wen interessieren schon ein paar hunderttausend Chinesen?

"What a crazy world we live in anyway. The large majority of people do not want war and yet we let a vociferous minority push us into it."
Minnie Vautrin, August 1937, im Ginling-College in Nanking (Nachzulesen in "The Goddess at the Rape of Nanking", der Minnie Vautrin Biographie von Hua-Ling Hu, S. 61; erschienen bei Southern Illinois University Press, 2001)

Kleiner Nachtrag: Gerade hat sich auch das Missverständnis mit dem Anfangsbuchstaben von "Rabe" aufgeklärt. Ich hab meinem chinesischen Freund von diesem Text hier erzählt und er sagte mir grade das man "Rabe" im Chinesischen mit den Silben/Schriftzeichen "La Bei" übersetzt. Diese Silben solle man auch verwenden, wenn man mit Chinesen über John Rabe und den mit seinem Namen verbundenen Teil der deutsch-chinesischen Geschichte spricht, dann wüßten die meisten wovon man redet.

Im April 2009 kam endlich ein Film über dieses Thema in unsere Kinos. Einen Trailer und mehr Informationen gibt's hier: www.johnrabe.de



Danke fürs Durchhalten/-lesen!
Peter

Lektorat: Rudolf Schiffmann



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